Susanne Lüderitz: Wenn die Seele im Grenzbereich von Vernichtung und Überleben zersplittert.
Auswirkungen auf Behandlungskonzepte der Dissoziativen identitätsstörung. Mit einem Vorwort von Michaela Huber. Junfermann, Paderborn 2005, 360 S. ISBN: 3-87387-612-4

Einleitung

„Das Ärgste ist noch nicht,
so lang man noch sagen kann,
das ist das Ärgste.“
− King Lear, Shakespeare

Das Thema der vorliegenden Arbeit entwickelte sich aus der Beobachtung, dass zum einen das Phänomen "Schmerz" und das Erleben von Schmerz so gut wie nicht in der psychologischen Literatur repräsentiert sind und dass zum anderen das Thema häusliche und außerhäusliche Gewalt in Deutschland noch immer sehr tabuisiert war bzw. ist (Studienergebnisse über innerfamiliäre Gewalt wurden beispielsweise nicht zur Veröffentlichung freigegeben usw.).
Dieses Tabu wirkt sich als Denkverbot in der Diskussion und Betrachtung von Störungsbildern dahingehend aus, dass viele der eigentlich offensichtlichen Gewaltfolgen nicht als solche bewusst und nicht als solche gesehen werden, weil die Andeutungen und indirekten Umschreibungen der Gewaltfolgen, die die Betroffenen einerseits aus ihrer eigenen Sprachlosigkeit und andererseits aus dem Mangel an Begrifflichkeiten für die Beschreibung ihrer Erfahrungs- und Erlebniswelt heraus geben, nicht als solche identifiziert werden (dürfen), sondern mit den verschiedensten Theorien und Gegentheorien, Deutungen und Annahmen belegt werden.

Da, wo die therapeutischen Behandlungsverfahren beziehungsweise das gängige Störungsverständnis die Betroffenen nicht erreichen und keine Besserung oder Heilung bringen, wird als Lösung oft genug zur Abwertung dieser Patientengruppe gegriffen. So ist beispielsweise der Begriff „Borderlinepatient“ unter Ärzten, Psychiatern und Psychologen teilweise ein sehr negativ belegter Begriff geworden, (ähnlich der abwertenden Färbung des Begriffes „hysterisch“). So ist die sogenannte Borderlinestörung einerseits eine sehr häufig anzutreffende Störung, da in Deutschland allein 24% der gesamten stationären Behandlungskosten für psychische Erkrankungen auf die Behandlung von Borderlinepatientenii aufgewendet werden, andererseits ist sie die Störung, deren „Chancen einer erfolgreichen Behandlung nach wie vor als ungenügend bewertet“ werden. Mit anderen Worten heißt dies, dass das bisherige Behandlungsverständnis für die unter diesem Etikett subsumierten Störungen häufig nicht ausreichend ist. Nicht uninteressant in diesem Zusammenhang ist, dass der mittlerweile starke Anstieg posttraumatischer und dissoziativer Störungsdiagnosen gleichzeitig mit einem Rückgang der Borderline-Diagnosestellungen einhergeht.


Das vorliegende Buch verfolgt daher zum einen das Ziel, die Auswirkungen von Gewalt in mitmenschlichen Beziehungen sichtbarer und verstehbarer zu machen und damit der Tendenz entgegenzuwirken, diese als etwas Fremdes und höchst Seltenes zu distanzieren und zum anderen das Ziel, durch ein größeres Verständnis für die Häufigkeit und Verbreitung vorsätzlicher Traumatisierungen die gesellschaftliche Isolation der Betroffenen zu verringern und ihre Chancen auf eine adäquate Behandlung zu vergrößern.


Dazu werden, neben einer Diskussion der individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Sprach- und Begrifflosigkeit, die Auswirkungen mitmenschlicher, das heißt vorsätzlicher, Gewalt dahingehend diskutiert, dass diese, obwohl sie zwar als Einzelsymptome in einer großen Bandbreite und Vielfalt auftreten, trotzdem einer ganz bestimmten Struktur folgen. Diese Strukturanalyse stützt sich auf die umfassende und mehrjährige Arbeit von Elaine Scarry „Der Körper im Schmerz“, die in diesem Werk den Entsubjektiverungsprozess unter Bedingungen extremer Gewalt und Folter auf seine bestimmenden Momente hin aufgeschlüsselt und damit Begrifflichkeiten entwickelt hat, mit denen dieses Geschehen begreifbar und versprachlichbar wird und die dazu beitragen, die Folgen von Gewalt aus der Unsichtbarkeit, der Tabuisierung und dem damit verbundenen Schweigen herauszuholen.


Die dabei gewonnene grundlegende Erkenntnis ist, dass dieser Zerstörungsprozess nicht willkürlich und regellos erfolgt, sondern einer ganz bestimmten inneren Logik folgt, die sich entlang der Hauptmomente dieses Geschehens (Schmerz, Sprachlosigkeit und Entsubjektivierung) vollzieht. Daher muss eine erfolgreiche Behandlung Extremtraumatisierter notwendigerweise über ein grundlegendes Verständnis der Dimensionen des Entsubjektiverungsprozesses und der Auswirkungen von extremen Schmerz verfügen, da Schwersttraumatisierte sonst nicht zu erreichen sind (wie auch die in der Literatur belegte hohe Zahl von Behandlungsmisserfolgen und Behandlunsgabbrüchen zeigt).


Grundlegend für das Behandlungsverständnis ist der Gedanke, dass die Struktur des Entsubjektiverungsprozesses beziehungsweise des Zerstörungsprozesses von Subjektivität genau die Umkehrung der Struktur des Heilungsprozesses (bei Scarry im nichtklinischen Zusammenhang „Schöpfungsprozess“ genannt) darstellt. Darauf gehen insbesondere die Kapitel 6, 7 und 9 des vorliegenden Buches ein.

Ausgewählt für diese Diskussion wurden Behandlungskonzepte für die als „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ (nach Herman) und „Dissoziative Identitätsstörung“ (nach DSM-IV, s. Abkürzungsverzeichnis) bezeichneten Störungsbilder, die als die extremste Folge von Entsubjektivierungssprozessen verstanden werden.

Die Thematisierung der Folgen extremer Gewalt bleibt immer auch eine Gratwanderung. Einerseits muss auf das zerstörerische Ausmaß der Gewalt und auf den ganzen Umfang der Verletzung aufmerksam gemacht werden, um der weitverbreiteten Tendenz des Verleugnung und Verharmlosung entgegenzuwirken. So soll einerseits mit dem Blick auf das ganze Ausmaß der Verletzung der überlebensnotwendige Anspruch der Leidtragenden auf eine angemessene Unterstützung verdeutlicht werden. Andererseits soll vermieden werden, dass dieser Fokus in einer defizitorientierten Sichtweise auf die Betroffenen und ihrer Fest- beziehungsweise Abschreibung als lebenslänglich Gezeichnete mündet. Gleichzeitig soll die Thematisierung der Überlebens- und Entwicklungsfähigkeiten von Menschen mit dissoziativer Identität und ihrer Potenziale nicht zu einer Verharmlosung der Gewaltfolgen führen. Obwohl der Schwerpunkt des vorliegenden Buches in der Analyse des Entsubjektivierungsprozesses liegt und für eine psychotraumatologische Zugangsweise zur Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) plädiert, ist nicht die Pathologisierung von Traumatisierten das Ziel. Das Anliegen besteht vielmehr darin, ein Verständnis für die Schwere der Verwundung zu wecken, die Überlebensleistungen der Menschen mit einem zersplitterten Selbst zu würdigen, ohne diese darauf zu reduzieren und das daraus abgeleitete Wissen um die notwendigen Bedingungen für den Heilungsprozess zu fördern, um insgesamt die Chancen der Betroffenen auf eine adäquate Behandlung zu vergrößern.

Um die theoretischen Aussagen so weit wie möglich mit der Sichtweise von Betroffenen zu kontrastieren, wurde besonders stark Bezug auf die Arbeiten von Walburga Temminghoff und Franziska Wuestefeld genommen, die explizit den Schwerpunkt auf das subjektive Erleben von Menschen mit dissoziativer Identität gesetzt haben.

Die verwendeten Begrifflichkeiten sind infolge der Widersprüchlichkeiten in der Entwicklung der Psychotraumatologie nicht einheitlich. Je nach Verwendungsweise der Autoren stehen zum Beispiel die Abkürzungen DIS (Dissoziative Identitätsstörung) und MPS (multiple Persönlichkeitsstörung) synonym für dasselbe Störungsbild (vgl. Abkürzungsverzeichnis).

Im ersten Kapitel wird versucht, aus dieser Vielzahl an Widersprüchlichkeiten in der Geschichte der Psychotraumatologie die wichtigsten Einflüsse zusammenzutragen und die ersten geschichtlichen Zeugnisse der heute als dissoziativer Identität bezeichneten Störung einzuarbeiten.

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